„Der Traum von einer Sache“ – so heißt ein sehr lesenswertes Buch des Bremer Medienhistorikers Holger Böning, das sich mit Aufstieg und Fall des politischen Liedes in der Nachkriegszeit befasst. Diese Sache, also „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren“ – so Marx und Engels in der Deutschen Ideologie über die klassenlose Gesellschaft – sie ist Dreh- und Angelpunkt fürs politische Lied im Sinne einer traditionellen, „jakobinischen“ Linken. Aber neben dem utopischen Ausblick erhalten politische Lieder ihren politischen Charakter natürlich auch zu jeder Zeit dadurch, dass sie einen Standpunkt in den gesellschaftlichen Kämpfen um die Organisationsform und die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts sowie die gesellschaftliche Gesamtreproduktion beziehen. Diese Kämpfe – fürs große Ganze wie ums Brechtsche Teewasser – werden stets in ideologisch-weltanschaulicher Form geführt. Und dabei hat die Kultur eine bedeutende Funktion. Politische Lieder sind daher auch elementarer Bestandteil einer auf (Gegen-)Hegemonie abzielenden, allgemeinen Politik des Kulturellen.
So etwas wie eine linke Gegen-Hegemonie gab es z.B. einmal in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach der historisch einschneidenden Zäsur des Ersten Weltkriegs und des „Zusammenbruchs der alten Welt“ ergab sich sich für viele nur noch die Alternative von Sozialismus oder Barbarei. Die politischen Lieder damals entsprangen zu einem großen Teil aus den Bedürfnissen der politischen Organisationen der Arbeiterklasse und den von ihnen geführten Kämpfen (Agitprop). Was der politische Sieg der bürgerlichen Herrschaftsform Faschismus 1933 für diese Bewegung bedeutete, ist bekannt.
Erst durch den Aufschwung der Linken in der APO-Zeit – Studentenbewegung, Gewerkschafts-, Anti-AKW- und Friedensbewegung etc. – wurden nach 1945 wieder Ansätze einer linken, kulturellen Hegemonie erreicht. Die damalige Unterhaltungsmusik entwickelte zeitweise sogar wieder eine deutliche, poltisch-radikale Sprechweise und wirkte so auch auf die gesellschaftlichen Bewegungen zurück, was sich – mit den vielen Brüchen, die es innerhalb des linken Lagers gab – bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein fortsetzte. Die weltweite politische Niederlage der Linken von 1989/1991bewirkte aber wieder den Verlust dieser zeitweiligen Stellung – ja, sogar beinahe das völlige Verschwinden linker Positionen in der Ästhetik.
Auch wenn die sich selbst Pop-Linke nennenden Post-Punkrock-Szenen der 90er Jahre das nicht wahrhaben wollten: Zu brennenden Asylbewerberheimen, Golfkrieg 2, Belgrad-Bomben und den marktradikalen Schocktherapien marschierte die Love Parade durch Berlin als Triumphzug für Helmut Kohl. Die Independent-People hielten dagegen Hardcore, Alternative und HipHop für prinzipiell nicht nur antikommerziell, sondern mitunter sogar für sozialistisch. Aber keiner konnte sich dabei mehr zu einer einzigen, gedanklich klaren politischen Position aufraffen. Die soziale Frage wird in der Musik seitdem nicht mehr klassenkämpferisch, sondern bestenfalls durch Randgruppenpolitik angegangen.
Trotz der im Jahr 2007 einsetzenden großen kapitalistischen System-Krise mit bereits katastrophalen sozialen Verwerfungen und Enteignungen, Massenarbeitslosigkeit v.a.im Süden Europas etc. hat sich daran vom Prinzip her nichts geändert. Die laufende Gebrauchsmusik hierzulande ist – jedenfalls oberhalb der Wahrnehmungsgrenze – längst heimgekehrt ins Schlagerparadies. Der hier und da noch in einigen sich „Off“ vorkommenden Szenen grassierende Pop-Snobismus bringt vielleicht formal ein paar hübsche Songs hervor, unterscheidet sich aber nicht substantiell vom Schlager-Mainstream. Er fördert – im Gegenteil – sogar durch die ständige Manifestation von gehobenen Geschmackspräferenzen noch die Legitimierung und Fortschreibung der sozialen Unterschiede und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, auf denen diese beruhen. Eine gesellschaftlich relevante musikalische Gegenkultur gibt es heute, außer bei den Nazis, nicht.
Der Workshop will aber auch anhand der wechselhaften Geschichte, die das politische Lied hierzulande genommen hat – von den Bauernkriegen, Vor- und Nach-März über den Faschismus bis heute – mit allen seinen reaktionären Wendungen und Windungen, eine Positionsbestimmung im Sinne der historisch längeren Wellen vornehmen. Im Anschluss daran soll gerne über Möglichkeiten und Ausblicke diskutiert werden, wie die derzeit niederschmetternde Lage vielleicht wieder gewendet werden könnte.
„Kai Degenhardt ist einer der wenigen Liedermacher seiner Generation, der sowohl mit einer klaren politischen Position als auch mit musikalischen Ideen aufwarten kann“, schreibt das Magazin Jazztehtik. Geboren 1964, wurde er in den 70ern und frühen 80ern entscheidend musikalisch sozialisiert, ist also mit Folk, Rock, Punk, Wave und Reggae groß geworden, aber auch mit den Liedern seines Vaters Franz Josef Degenhardt sowie dem kulturellen Umfeld der linken und linksradikalen Szenen dieser Jahre. Mit seinem Vater arbeitete Kai viele Jahre als Arrangeur und Gitarrist zusammen und hat von 1987 an auf sämtlichen seiner Alben und diversen Tourneen mitgewirkt. Er hat bislang fünf eigene Alben veröffentlicht.
Neben der Musik hat Kai diverse Artikel z.B. für die kommunistische Wochenzeitung UZ und andere linke Publikationen wie junge Welt, Z. und Marxistische Blätter geschrieben. Eine Auswahl dieser Aufsätze ist unter dem Titel „Roll over Song & Dance“ im Frühjahr 2008 beim Neue Impulse Verlag erschienen.